Orly

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Ende des Winters. Menschen warten am Flughafen Paris Orly. Eine Frau, die ihren Ehering bei der Mutter vergessen hat, verliebt sich in einen Fremden. Ein junger Mann, dessen Liebe in der allzu engen Zweisamkeit mit seiner Freundin verloren ging, entdeckt die Frau seiner Träume. Ein schöner Jüngling an der Grenze zum Erwachsensein verreist mit seiner Mutter. Für den Sohn wird es Zeit, Klartext zu reden. Er erzählt ihr, wie er mit seinem Freund am Fluss war. Dass es zu regnen begann und wie sie sich in einem Ruderclub unterstellen mussten. »Dann haben wir uns angesehen. Und dann haben wir gefickt.« Ihr Flug ist dran, sie gehen zum Boarding. Die Mutter ist ein bisschen kleiner geworden. Er legt schützend den Arm um sie – Menschen in einer Phase des Übergangs. Damit befasst, ihrem augenblicklichen Schicksal zu folgen, bemerken sie nichts von der äußeren Bedrohung, die zur Evakuierung des Flughafens führt.
Lose verbundene Szenen in der Halle des Pariser Flughafens Orly: [...] Die Abflughalle ist ein Ort des Transits. Man ist zwischen hier und dort, zwischen noch nicht und nicht mehr. Schanelec platziert vier Paare in der Menschenmenge der Wartenden, die Kamera beobachtet sie, häufig aus der Ferne. Zu verstehen sind ihre Gespräche dennoch, das Ohr ist näher dran als das Auge. Intime Dialog-Inseln im hektischen Treiben. Die gewaltige Geräuschkulisse kann ihnen nichts anhaben. Bis die Musik kommt, die den gesamten Raum infiziert: „Remember Me“, gesungen von Cat Power. Sie verstärkt die schon in der Luft liegende Atmosphäre von Sehnsucht, Trennung und Vergänglichkeit. Der Monolog eines sterbenden, liebenden Mannes aus dem Off tut später das seine dazu. „Love Will Tear Us Apart“ – so steht es zu Beginn auf einem Plattencover. Ein Abschieds-Film.
Birgit Kohler
„Unser Leben besteht aus Flüchtigem“
Was war die auslösende Idee für diesen Film?
Ich war mit Reinhold Vorschneider, dem Kameramann des Films, in Paris, zum Filmstart von MARSEILLE, und wir warteten auf den Rückflug nach Berlin. Wir saßen in dem Restaurant, in dem wir dann auch gedreht haben. Es ist besonders schön, es befindet sich in der großen Halle, die voller Licht ist, alles wirkt großzügig und transparent, und die Menschen haben ihren Platz darin. Ich fing an, darüber nachzudenken, was für Geschichten sie haben könnten. Für den Plan, dort zu drehen, war es bestimmt ausschlaggebend, dass dieser Raum gemacht ist für die Leute darin, er stellt sie nicht in Frage, und das macht sie schön, zumindest erträglich. Ich hatte das Gefühl, alles ist möglich, nichts ist falsch.
Der Film verfolgt vier Erzählstränge, vier persönliche Geschichten von Paaren. Einige Stränge scheinen sich zu berühren. Wie hast du die einzelnen Stränge in der Phase des Drehbuchschreibens entwickelt?
Ich habe eine Geschichte nach der anderen geschrieben. Zuerst haben sie sich gar nicht berührt. Der ursprüngliche Gedanke war, dass der Raum und die Gleichzeitigkeit des Geschehens als Verbindung ausreichen. Ich hatte Sorge, dass alles Weitere auf Kosten der Absichtslosigkeit und Zufälligkeit geht. Das war aber gar nicht der Fall, im Gegenteil: In einer späteren Phase des Schreibens war mein Eindruck, dass die wenigen Berührungspunkte, die inzwischen entstanden waren, die Atmosphäre des Flüchtigen eher verstärken.
ORLY spielt nach PLÄTZE IN STÄDTEN und MARSEILLE wieder in Frankreich. Was reizt dich an dem Land und vor allem an der Arbeit mit einer anderen Sprache?
Bei PLÄTZE IN STÄDTEN war Paris einfach die Stadt, die ich außerhalb Deutschlands am besten kannte, und dann hat sich immer eins aus dem anderen ergeben – bestimmte Erfahrungen, die ich gemacht habe, die Fremdheit, die immer geblieben ist, trotz meiner hartnäckigen Annäherungsversuche. Sicher ist es auch die für mich schwer zu fassende Schönheit der Stadt. Außerdem hatte ich große Lust, weiter mit französischen Schauspielern zu arbeiten. Wegen der Kosten war lange nicht klar, ob wir in Orly würden drehen können, und beim Schreiben dachte ich immer, dass natürlich auch andere Flughäfen möglich sein müssten, Amsterdam zum Beispiel oder Zürich; inhaltlich wäre das ja auch kein Problem gewesen. Trotzdem war ich am Ende sehr erleichtert, dass es mir erspart blieb, einen anderen Flughafen zu suchen.
Verändert die andere Sprache die Geschichte?
In welchem Sinn? Wenn ich in Deutschland gedreht hätte, hätte ich die gleichen Geschichten erzählt. Aber es gibt einen etwas idiotischen Nebeneffekt: Die Bemühungen, sich verständlich zu machen, verlaufen ganz anders, wenn es nicht in der eigenen Sprache geschieht. Wenn ich mit französischen Schauspielern während der Arbeit Französisch spreche, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als jedes Wort zu nutzen, das mir in den Sinn kommt. Normalerweise empfinde ich das nicht als besonders produktiv. Aber ich habe mich dadurch in gewisser Weise ausgeliefert, wie sie sich mir ja auch ausliefern mussten. Die Proben haben mich sehr an meine Zeit am Theater erinnert, also an die Zeit, in der ich dieses Sprechen über Figuren und Situationen noch für sinnvoll hielt. Daran habe ich zwischenzeitlich lange nicht mehr geglaubt. Aber hier war das Reden einfach, nicht verlogen, es diente uns. Das war schon beglückend.
Die Tonspur des Films ist dominiert von der Atmosphäre des öffentlichen Raums Flughafen. Wie beiläufig fokussiert der Film die einzelnen Figuren. Ein Song durchbricht diese Atmosphäre deutlich. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Als ich die ersten Aufnahmen der Totale, in der Jirka und Maren durch die Halle gehen, noch während der Drehzeit gesehen habe, dachte ich an einen Song von Cat Power und habe mir die Szene fortan nicht mehr anders vorgestellt. Ich fand das Lied dann aber zu flach und habe schließlich ein anderes Lied von Cat Power ausgewählt. Wenn ich die Szene jetzt sehe, kommt es mir sehr naiv vor, auf diese Weise Musik einzusetzen; gleichzeitig entspricht das aber völlig dem, was ich wollte. Ich glaube, die Musik macht die Flüchtigkeit der Begegnung zwischen Maren und Jirka auffälliger, es wird deutlich, dass Dinge flüchtig sind und trotzdem existieren. Unser Leben besteht aus Flüchtigem, das ist ein bisschen traurig, aber eigentlich sehr interessant und aufschlussreich. Im Übrigen war unser Bestreben bei der Mischung, den öffentlichen Raum so präsent wie möglich zu machen und die Stimmen der Darsteller so einzubetten, dass sie Teil des Ganzen bleiben. Die Fokussierung im Ton sollte der Fokussierung im Bild entsprechen. Das bedeutet aber nicht, dass der Raum weniger wichtig ist; der Raum ist Ausgangspunkt und Auslöser, Körper des Ganzen und immer spürbar.
In deinen Filmen scheinst du immer die Frage nach der Fokussierung der Figuren zu stellen: Wer steht wann wie im Bild? Und was ist in einem bestimmten Moment wichtiger: der Blick auf die Umgebung oder der Blick auf die Figur? Das Spiel des jungen Mannes mit der Kamera scheint diese Frage auch zu stellen. Was fokussiert er und welche Wirkung hat das? Legst du Bildausschnitte vorher fest oder improvisierst du auch während der Dreharbeiten?
Was Jirka betrifft, stellte sich sehr früh die Frage, wie wir damit umgehen würden, weil er der Einzige ist, dessen subjektiven Blick ich erzählen will. Während der Vorbereitungen mit Reinhold kamen wir an dieser Stelle im Buch immer ins Stocken. Angesichts der sich durch die Bewegung der Leute ständig verändernden Räume wurde uns allerdings auch klar – Reinhold früher als mir –, dass wir mit unserer Arbeitsweise, die Szenen schon in der Vorbereitung aufzulösen, nicht weit kommen würden. Also haben wir das gelassen und nur noch festgelegt, wo wir welche Szenen drehen wollten. Diese schon vor Drehbeginn oft tagelangen Aufenthalte im Flughafen, immer zwischen all den Menschen, löste auch etwas Fatalistisches in mir aus und ein Gefühl der Machtlosigkeit. Das war manchmal befreiend, manchmal hat es mich auch fertiggemacht. An den Drehtagen haben wir dann eben geschaut, wie die Situation an dem jeweiligen Ort gerade ist, wo die Darsteller ihren Platz finden können, und entsprechend wurden die Positionen für die beiden Kameras festgelegt. Auf alles Weitere konnte man dann nur noch reagieren.
Wie waren die Dreharbeiten auf dem Flughafen? Sehen wir Statisten oder hast du an einem gewöhnlichen Tag gedreht?
Wir haben an gewöhnlichen Tagen gedreht und nicht abgesperrt, so wie ich es von Anfang an geplant habe. Wir hatten nur die Schauspieler und die Darsteller für Polizei und Sicherheitspersonal, weil wir die Beamten, die Dienst hatten, eigentlich nicht drehen durften. Statisten als Fluggäste gab es nur in der Evakuierungsszene. Ich hätte diesen Film niemals mit Statisten drehen können, ich hasse und fürchte Statisten und bin völlig unfähig, sie zu inszenieren. Ich bekomme auch Krämpfe, wenn Assistenten anfangen, sie zu inszenieren. Es ist beängstigend, am Set von Menschen umgeben zu sein, die ständig nicken, obwohl sie nichts verstehen, und dann wie ferngesteuert ganze Takes zerstören. Mein Interesse bei ORLY galt ja gerade den Leuten, die sich dort bewegen, sie waren, was das Spiel der Darsteller betraf, sozusagen das Maß aller Dinge und damit unersetzbar. Mit Lina, die Jirkas Freundin spielt, habe ich mich zu Beginn der Arbeit am Flughafen Tegel getroffen; ich habe sie gebeten, sich einfach hinzusetzen mit ihrem Koffer und ein Buch zu lesen. Aber die Frau zwei Meter weiter, die ebenfalls nur ein Buch las, sah ganz anders aus: selbstvergessener, schöner. Es war sehr einfach zu erkennen, was das Ziel ist und worum es geht. Es ist schwer für einen Schauspieler, selbstvergessen zu sein oder zumindest zu wirken. Aber es geht, das ist sein Beruf. Etwas Derartiges würde ich von einem Statisten im Traum nicht erwarten.
Die Figuren in ORLY sind allesamt mit ihren persönlichen Problemen befasst. Sie sind mit der „Außenwelt“ nur durch Mobiltelefone, die Bilder einer Kamera oder durch einen Brief verbunden. Es scheint, als ob sie sich alle durch das Warten auf dem Flughafen in einem Ausnahmezustand befinden. Was hat dich an dieser Situation, die uns allen nicht fremd ist, interessiert?
Wahrscheinlich die Widerstandslosigkeit, die durch das Sich-führen-Lassen entsteht, das Sich-den-Regeln-Ergeben, die Selbstvergessenheit, von der ich sprach, die leichte Erschöpfung. Der Gleichmut und die Weichheit, die entstehen, wenn man akzeptiert hat, dass man warten muss. Die Unabänderlichkeit des Wartens, des Lebens. Die Banalität der Vorgänge, Gepäck abgeben, Papiere zeigen, sich abtasten lassen. Das bemerkenswerte Vertrauen in Personen, die wir nicht kennen, Abläufe, auf die wir keinen Einfluss haben. Die Sehnsucht nach etwas anderem, die in jedem Reisenden liegt, die Hoffnung. Die Gegenwärtigkeit des Fliegens. Die Einsamkeit, die Nähe des Himmels.
Interview: Gabriela Seidel-Hollaender, Berlin, Januar 2010

Details

  • Länge

    84 min
  • Land

    Deutschland, Frankreich
  • Vorführungsjahr

    2010
  • Herstellungsjahr

    2010
  • Regie

    Angela Schanelec
  • Mitwirkende

    Natacha Régnier, Bruno Todeschini, Mireille Perrier, Emile Berling, Jirka Zett, Lina Phyllis Falkner, Maren Eggert, Josse de Pauw
  • Produktionsfirma

    Ringel Filmproduktion, Berlin; Nachmittagfilm, Berlin; La Vie Est Belle, Paris; ZDF/3sat, Mainz
  • Berlinale Sektion

    Forum
  • Berlinale Kategorie

    Spielfilm

Biografie Angela Schanelec

Angela Schanelec, geboren am 14. Februar 1962 in Aalen, studierte von 1982 bis 1984 Schauspielerei an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Im direkten Anschluss gab sie ihr Debüt als Filmschauspielerin mit einer Hauptrolle in Christian Ziewers Historienfilm "Der Tod des weißen Pferdes" (1985). Von diesem Auftritt abgesehen konzentrierte Schanelec sich jedoch auf die Bühnenarbeit: Bis 1991 war sie als Schauspielerin am Thalia Theater Hamburg, dem Schauspielhaus Köln, der Berliner Schaubühne und dem Schauspielhaus Bochum zu sehen.

1990 nahm sie ein Regiestudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) auf, das sie fünf Jahre später abschloss. Ihr Abschlussfilm "Das Glück meiner Schwester", in dem sie selbst eine Hauptrolle spielt, wurde 1996 mit dem Preis der deutschen Filmkritik als "Bester Film" ausgezeichnet. Schanelecs zweiter Film "Plätze in Städten" feierte 1998 bei den Filmfestspielen von Cannes in der Sektion "Un Certain Regard" Premiere. Im Jahr darauf erhielt sie den Kunstpreis Berlin (Förderungspreis Film- und Medienkunst). Mit ihren folgenden Filmen "Mein langsames Leben" (2001), "Marseille" (2004; Preis der Filmkritik für das Beste Drehbuch) und "Nachmittag" (2005), die sich durch ihre betont ruhige und nüchterne Inszenierung sowie einen unverstellten Naturalismus auszeichneten, avancierte Schanelec zu einer der ersten Protagonistinnen der sogenannten "Berliner Schule" – eine Stilrichtung, der unter anderem auch die Filmemacher Thomas Arslan, Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg und Maren Ade zugerechnet werden.

2010 stellte Angela Schanelec, die bei sämtlichen ihrer Filme auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, im Forum der Berlinale ihren sechsten abendfüllenden Spielfilm vor: "Orly" erzählt von einer Reihe sehr unterschiedlicher Menschen, deren Lebenswege sich am Pariser Flughafen Orly kreuzen. Beim Festival des deutschen Films in Ludwigshafen erhielt das Werk den Filmkunstpreis.

2012 wurde Schanelec als Professorin für narrativen Film an die Hochschule für bildende Künste Hamburg berufen. Im Jahr 2014 gehörte sie bei dem Omnibusfilm "Ponts de Sarajevo" zur Gruppe von 13 europäischen Regisseuren, die sich in individuellen Episoden mit der Rolle Sarajevos in der europäischen Geschichte befassten.

Zwei Jahre später, im August 2016, stellte Angela Schanelec ihren siebten abendfüllenden Film vor: In dem eigenwillig-poetischen "Der traumhafte Weg" (DE/GB/GR) erzählt sie, zwischen dem Griechenland des Jahres 1984 und Berlin 2014 pendelnd, von zwei Paaren, deren Wege sich in Berlin auf unerwartete Weise kreuzen. Der reguläre Kinostart erfolgte im April 2017. Beim Preis der deutschen Filmkritik wurde "Der traumhafte Weg" für den Besten Schnitt (Angela Schanelec, Maja Tennstedt) und die Beste Kamera (Reinhold Vorschneider) ausgezeichnet.

Schanelecs nächster Film, das Drama "Ich war zuhause, aber", feierte im Wettbewerb der Berlinale 2019 Weltpremiere.
-filmportal.de