Vier Fenster

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Was wissen wir von den Menschen, die wir unsere Familie nennen? Welche Gefühle, Gesten und Liebesbeziehungen machen diese kleinste Zelle der Gesellschaft aus? Was könnte hinter der Tür der Nachbarsfamilie wirklich vorgehen? Diese Frage hat sich Regisseur Christian Moris Müller in diesem Film gestellt. Vier Fenster, das bedeutet vier Kapitel über vier Individuen, die ihr Glück im Verborgenen suchen: Der Sohn trifft auf einen Fremden, der ihn küssen will. Der Vater küsst seine Frau und meint die Tochter. Die Tochter wird von der Mutter geküsst, ein Schlag ins Gesicht. Die Mutter provoziert den Kuss eines Fremden und hofft, dass ihr Mann ihre Wunden leckt. Gemeinsam ist ihnen das Verlangen nach Geborgenheit, also halten sie aneinander fest. Der Preis ist unendliche Sprachlosigkeit. Christian Moris Müller nähert sich seinen Figuren behutsam und ohne Vorurteil. Anstatt große Worte zu benutzen, lässt er die Gesichter sprechen. Lange, ungeschnittene Einstellungen geben den Schauspielern Zeit und Raum zur Entwicklung. Christian Moris Müller: „Ich habe ein Problem damit, wenn zu oft geschnitten wird. Das wirkt zerstreuend und macht den Moment kaputt. Ich wollte jeder der vier Figuren Raum geben, sich im Zuschauer auszubreiten.“ Dies gelingt nicht zuletzt durch Kameramann Jürgen Jürges, der schon mit Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders und Michael Haneke zusammenarbeitete.
Kurzbeschreibung
Sie wollen sich voneinander lösen, doch sie umklammern sich immer fester. Mit aller Kraft halten sie die Fassade aufrecht. Je lauter sie lachen, desto stiller wird es um sie. Immer tiefer ziehen sich die Risse im Familienbild, bis sich dahinter ein unausweichliches Geheimnis offenbart.
Interview mit dem Regisseur Christian Moris Müller

Was steckt hinter VIER FENSTER?

Ich wollte der Frage auf den Grund gehen, was Familie wirklich bedeutet. Auf der einen Seite ist sie ein Ort der Liebe und der Hingabe, auf der anderen Seite ein Ort von Missbrauch. Ich denke da an den Missbrauch von Machtverhältnissen. Ich wollte eine Familie beobachten, die man gelegentlich im Aufzug trifft und über die man nicht mehr erfährt als die Oberfläche. Ich habe versucht, diese Oberfläche ganz genau zu beschreiben und nach den darunter liegenden Beziehungen zu fragen. Letztlich geht es um die Sehnsucht nach Liebe und die Sehnsucht nach Berührung. Gerade in der Familie gibt es feste Strukturen, innerhalb derer jeder bestimmte Strategien benutzt, um Liebe zu bekommen. Da reicht oft schon das Bild von Liebe aus. Wir kreieren solche Bilder von Liebe permanent. Eigentlich untersuche ich nur diese Oberfläche: das Bild der glücklichen Familie, das immer wieder zelebriert wird.

Wie kam es zu der ungewöhnlichen Erzählstruktur?

Am Anfang stand die Geschichte des Sohnes, die ich als Kurzfilm realisieren wollte. Im Laufe des Schreibens habe ich festgestellt, dass mich die Figur der Mutter immer mehr interessiert. Die Beziehung zwischen den beiden wurde wichtig. Also schrieb ich auch ihre Geschichte auf. Sie spricht immerfort von ihrem Ehemann, der nie auftaucht. Das fand ich spannend: Welches Leben führt er, fernab von Frau und Sohn? Mit der Geschichte der Tochter hat sich dann alles wie ein Puzzle zusammengefügt. Es wurde ein Film über die Beziehungen zwischen den Menschen. Ich wollte Familie als komplexes System zeigen, wobei der eine nicht ohne den anderen zu beschreiben ist. Die Machtverhältnisse in der Familie sind zu verstrickt und die Erwartungen zu hoch.

Wie sieht Deine Arbeit mit den Schauspielern aus?

Die Arbeit mit den Schauspielern beginnt schon bei der Besetzung. Es ist mir wichtig, Leute zu finden, mit denen ich etwas entwickeln kann. Erstaunlich gut hilft oft eine scheinbar technische Herangehensweise: Wann steht eine Figur auf? Wann sehen sich die Leute an? Wie sind sie zueinander räumlich angeordnet? Wie lange dauert ein Schweigen? Wann atmet eine Figur und wann stoppt ihr Atem? Ich sehe diese äußeren Vorgänge als ein Gerüst, an dem sich der Schauspieler entlang hangelt. Innerhalb dieses Systems kann er sich dann ganz frei bewegen. Es macht mir sehr viel Spaß, am Rhythmus einer Szene zu arbeiten. Hat man ein paar Takte geklärt, ergeben sich die anderen oft ganz von selbst. Der schönste Moment ist, wenn ich merke, dass ich die richtige Sprache für jeden Schauspieler gefunden habe. Diese Sprache ist wie ein Schlüssel, der einen in immer neue Räume führt. Dann wird der Dreh zur Entdeckungsreise.

Wie bist Du mit dem Kameramann Jürgen Jürges zusammengekommen?

Ich habe seinen Namen im Telefonbuch gesucht, angerufen und gefragt, ob ich ihm mein Drehbuch schicken kann. Einen Tag später hat er mich zurückgerufen und gesagt, dass er den Film machen will. Es war eine ganz große Erfahrung, dass jemand zusagt, ohne sich vorher abzusichern wie die Produktionsbedingungen sind, sondern seine Entscheidung allein vom Drehbuch abhängig macht. Jürgen fragt sehr genau, welche Geschichte man erzählen möchte. Seine Bilder sind die Antwort auf diese Fragen. Bei uns beiden gibt es so eine Art Verwandtschaft in der Bildsprache.
Wie würdest Du die Bildgestaltung von VIER FENSTER beschreiben?

Es ist eine sehr direkte Bildsprache, genau fokussiert auf das, was wichtig ist. Ich habe mich für lange Einstellungen ohne Schnitt entschieden, um möglichst lange bei den Figuren zu bleiben. Ich habe ein Problem damit, wenn zu oft geschnitten wird. Der Zuschauer muss sich immer wieder konzentrieren auf ein neues Bild und einen neuen Rhythmus. Das wirkt zerstreuend und macht den Moment kaputt. Außerdem ist es eine Bildsprache, die sich sehr genau überlegt, was sehe ich und was sehe ich nicht Wir haben oft Leute gefilmt, die reagieren und weniger die, die agieren. In den zuhörenden Gesichtern ist häufig mehr zu lesen als in denen, die reden. Das hat mit unserem Verhalten als Mensch zu tun. In dem Moment, in dem wir reden, nehmen wir eine bestimmte Haltung ein und fangen an, eine Rolle zu spielen. Die direkte Reaktion darauf ist unmittelbarer oder wahrhaftiger.

Hat VIER FENSTER ein Happy End?

Das Ende ist formal gesehen ein offenes Ende. Aber es gibt auch einen kleinen Ausblick auf Veränderung. Das war für mich wichtig zu erzählen. Die Beziehung zwischen Tochter und Sohn ist für mich letztlich am hoffnungsvollsten. Zwischen den beiden Geschwistern gibt es nicht diese existenzielle Abhängigkeit wie zwischen den Eltern oder zwischen Eltern und Kindern. Da gibt es noch die Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen. Das Ende erzählt davon, dass zwei Menschen beginnen zu reden. Das ist für mich der Anfang einer Veränderung.

Interview mit dem Kameramann Jürgen Jürges

Wie war Deine erste Reaktion auf das Drehbuch zu VIER FENSTER?

Spannend für mich war die angedachte Machart, das Drehen in Plansequenzen (lang durchgehende Einstellungen, A. d. Red.). Nach den ersten Gesprächen mit Christian habe ich gemerkt, dass er sehr genau wusste, was er wollte. Er hat eine solche Motivation und Begeisterung an den Tag gelegt, dass für mich klar war, dass wir zusammen kommen werden.

Ist es für Dich nicht ungewöhnlich bei so einem kleinen Film mitzumachen?

Überhaupt nicht! In dem Moment, wo mir die Geschichte gefällt, spielt es keine Rolle, ob es ein kleiner Film ist. Ich habe auch kein Problem, damit mich im technischen Aufwand zurückzunehmen. Mir ist es auch egal, ob es im Mini-Format oder auf Cinemascope gedreht wird. Wichtig ist die Geschichte.

Es war ja Dein erster Dreh auf DV...

Ich hatte mich jahrelang tot gestellt gegenüber den digitalen Medien. Aber letztes Jahr habe ich zum ersten Mal digital (auf HD) gedreht und das hat mir die Scheu genommen. Ich konnte einige Vorteile dieser Formate kennen lernen. DV reagiert so ähnlich wie HD. Es brennt nach oben hin sehr schnell aus und hat dafür in den dunkeln Bereichen viel mehr Spielraum. Das konnten wir für VIER FENSTER gut nutzen. Alle Räume hatten aus dramaturgischen Gründen geschlossene Vorhänge, dadurch war der Kontrastumfang nicht sehr groß und ich hatte die Ausleuchtung in der Hand. Interview mit Theresa Scholze, spielt die Tochter

Was hat Dich persönlich an VIER FENSTER interessiert?

Als ich das Drehbuch das erste Mal gelesen hatte, dachte ich: Habe ich wirklich gerade diese Geschichte gelesen, von der ich annehme, dass ich sie gelesen habe? Die Geschichte wird ja nicht plakativ erzählt, sondern findet im Kopf statt. Im Drehbuch hat man das Gefühl, das ist nur die Spitze des Eisbergs und trotzdem erzählt es soviel mehr von dem, was noch darunter liegt. Das war sehr reizvoll.

Wie siehst Du Ihre Beziehung zum Vater?

Das ist ein großes Tabuthema. Dass sich Väter an ihren Töchtern vergehen, hat man gehört. Aber dass es von beiden Seiten freiwillig passiert – das kann ich persönlich schwer nachvollziehen. Man fragt sich dann, wer von den beiden hat angefangen? Vermutlich der Vater. Wie viel hat das mit ihrem Verhältnis zur Mutter zu tun? Oder mit dem Gefühl, sich ungeliebt zu fühlen. Die Tochter betrügt ja auch den Freund, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie kann sich nicht dagegen wehren, auch wenn sie möchte. Und dann tut sie irgendwann so, als wäre es normal. Niemand redet darüber. Es wird schon irgendwann vorbeigehen. Sie nimmt das nicht als Problem wahr. Dazu ist es zu fortgeschritten. Aber sie weiß natürlich, dass es nicht geht. Das erzeugt diesen latenten Druck und die latente Unzufriedenheit, unter der dauerhaft jeder Mensch zusammenbrechen wird.

Wie wirkt der Film Deiner Meinung nach?

Ich finde der Film ist sehr brutal, ohne gewalttätig zu sein. Das ist so eine Alltagsbrutalität, die ständig stattfindet. Das Problem, dass man über Dinge, die ganz spürbar anwesend sind, nicht redet, betrifft  sehr viele Menschen. Ich hoffe, der Film schafft es, dass man sich irgendwann der Wahrheit stellt und beginnt darüber nachzudenken.

Interview mit Thorsten Merten, spielt den Vater

Was hat Dich persönlich an VIER FENSTER interessiert?

Ich habe angefangen das Buch zu lesen und nach den ersten Seiten habe ich gedacht „was für ein Käse“. Und als ich dann einmal durch war, wurde es immer spannender. Das hat damit zu tun, dass der Film nichts auserklärt, sondern sich erst im Kopf zusammensetzt. So ein Drehbuch ist mir noch nicht untergekommen. Das musste ich einfach machen. Ich habe es als ein großes Abenteuer empfunden.

Was für ein Typ ist der Vater?

Ich habe mir das so zurechtgelegt, dass er mal ein ganz lebenslustiger Typ war. Und wie das so ist in Beziehungen, kommt er in einen Leerlauf rein, so in eine Schiene, wo er keinen Ausweg mehr sieht. Wo er den einzigsten Spaß mit der Tochter hat. Wo er nicht mehr rauskommt und auch auf den Spaß nicht verzichten will. Außerdem ist er wie alle Väter eifersüchtig, wenn sich die Tochter selbständig macht. Hier ist es nicht nur die Eifersucht des Vaters, sondern auch des Liebhabers.

Wie hast Du Dich auf die Rolle vorbereitet?

Ich versuche erstmal meiner Figur viele Macken und Besonderheiten zu geben. Ein Tag vor Drehbeginn, denke ich mir dann: Das sind doch auch ganz normale Menschen und fange dann bei mir an, wie ich mich in einer solchen Situation verhalten würde. So versuche ich die Figuren auch anzulegen, ohne ein großes Trauma. Das traumatische sind die Verhältnisse und nicht die Figuren an sich. Trotzdem wollte ich versuchen diese bleiernen Verhältnisse, die Bedrückung, diesen tonnenschweren Alptraum nicht ständig mitzuspielen.

Interview mit Margarita Broich, spielt die Mutter

Was hat Dich persönlich an der Geschichte interessiert?

Ich fand die Geschichte spannend, hatte aber ein bisschen Angst, weil sie sehr schnörkellos und gerade war. Da steckt eine unendliche Trostlosigkeit drin, die man immer wieder gern aufbrechen möchte, aber nie aufbrechen durfte. Man muss innerlich schon eine fröhliche Seele sein, um nicht ganz traurig zu werden.

Wie würdest Du die Figur der Mutter beschreiben?

Die Mutter ist einfach die Mutter. Ich bin auch Mutter. Manchmal bin ich erschrocken darüber, wie wenig man von seinen eigenen Kindern mitkriegt und trotzdem ist man ganz eng bei ihnen. Da gibt es viele verfahrene und zum Teil tragische Situationen. Vieles ist bei der (Mutter) noch gar nicht bis zur letzten Schaltzentrale vorgedrungen, sonst könnte sie nicht weitermachen. Viele Dinge werden ganz schnell weg getan bevor man sie zu lange anschaut.

Wie waren die Dreharbeiten?

Die Dreharbeiten waren für mich rauschhaft, überhaupt nicht trostlos, sondern erfüllt. Christian hat einen ziemlich klug auf einen schmalen Grad gesetzt. Er hat diese Gradlinigkeit von einem nicht gefordert, sondern langsam hergestellt. Man bekam richtig Lust mit Nichts oder nur mit einem Minimum die Sachen auszudrücken. Ich habe daran im Laufe der Dreharbeiten immer mehr Gefallen gefunden.

Wie wird der Film deiner Meinung nach aufs Publikum wirken?

Die langen Einstellungen sind schon eine Provokation. Da werden Sehgewohnheiten umgeworfen. Aber die Wirkung ist schon erstaunlich. Man bleibt an den Schicksalen dran und erkennt in ihren Gesichtern diese erschreckenden Momente von Stillstand.  

Details

  • Länge

    80 min
  • Land

    Deutschland
  • Vorführungsjahr

    2006
  • Herstellungsjahr

    2005
  • Regie

    Christian Moris Müller
  • Mitwirkende

    Thorsten Merten, Margarita Broich, Theresa Scholze, Frank Droese, Ole Puppe, Sandra Nedeleff, Alma Leiberg, Stephan Lewitz, Lina Schuller, David Behrens, Christoph Konopatzki, Jean Denis Römer, Karl-Heinz Thinius, Werner Wilkening, Friedrich A. Holm, Franca Schuller
  • Produktionsfirma

    Schlicht und Ergreifend Filmproduktion
  • Berlinale Sektion

    Perspektive deutsches Kino
  • Berlinale Kategorie

    Spielfilm

Biografie Christian Moris Müller

Studierte erst an der Münchner Heinz-Bosl-Stiftung Ballett und nach einer Ausbildung zum Kommunikations- und Modedesigner dann in New York Schauspiel und Theaterregie. Seit 2000 Studium an der HFF in München.

Filmografie Christian Moris Müller

2002 Unter der Erde | 2015 Lichtgestalten